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Die Mitte – ein mythischer Ort

Oliver Decker im Gespräch mit Christoph Türcke

Decker, Oliver | Türcke, Christoph

Zeitschrift für kritische Theorie (ZkT), Bd. 22 (2016), Iss. 42/43: S. 215–229

Zusätzliche Informationen

Bibliografische Daten

Decker, Oliver

Türcke, Christoph

Abstract

Bereits am Vorabend des Nationalsozialismus untersuchte das Frankfurter Institut für Sozialforschung, warum die soziale Revolution ausblieb und die Menschen sich mit Herrschaft identifizierten, anstatt sie zu stürzen. Später, in den USA, fragten die Sozialforscher, was Menschen für antidemokratische Propaganda empfänglich macht. Mit der »F-Skala« wiesen sie auf Charakterdispositionen hin, die bei der Selbstunterhöhlung demokratischer Gesellschaften beteiligt sind. Zur Struktur eines autoritätsgebundenen Charakters gehöre die Identifikation mit der Macht schlechthin, schrieb Adorno damals. Ende der 1950er Jahre sagte er, das »Nachleben des Faschismus« in der Demokratie sei gefährlicher als offen antidemokratische Tendenzen. Mitte der 1960er Jahre veränderte sich die Lage hierzulande mit Gründung der NPD. Adorno, für den »der wiedererwachende Nationalismus« eine der Hauptgefahren darstellte, reagierte u.a. mit dem Vorschlag, »mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen […] aufs Land« zu schicken, um dort politischen Unterricht zu leisten. – Was Anfang der 1950er Jahre unter dem Stichwort Authoritarian Personality untersucht wurde, hat bis heute in Deutschland traurige Aktualität. Nach der Eingemeindung der DDR in die BRD führte Wolfgang Pohrt für das Hamburger Institut für Sozialforschung eine Untersuchung durch, die der Frage nachging, ob es Anfang der 1990er Jahre in der Bundesrepublik »eine Disposition zum Faschismus als Gemütsbewegung« gebe. In den Aussagen, denen die Probanden damals zustimmen oder widersprechen konnten, kamen Ressentiments gegen freiheitliche Lebensführung, Ausländer, Asylbewerber und Homosexuelle sowie gegen die Abschaffung europäischer Grenzen zum Ausdruck. Auch die Sorge um das deutsche Weihnachtsfest wurde angesprochen. Bald darauf, 1994, veröffentlichte Kurt Lenk seine Studien zur Ideologie des politischen Konservatismus unter dem Titel Rechts, wo die Mitte ist. Diese Titelzeile scheint auch für die Bewusstseinslage jener Bevölkerungsgruppen zuzutreffen, die Oliver Decker von der Universität Leipzig seit Jahren untersucht. Im Sommer 2016 erschien im Gießener Psychosozial-Verlag das Buch Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, das er zusammen mit Johannes Kies und Elmar Brähler herausgegeben hat. Wofür gehen unsere Landsleute heute auf die Straße? Über die neuesten Entwicklungen sprachen Oliver Decker und Christoph Türcke für die Zeitschrift für kritische Theorie.