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Einleitung : Jean Starobinski

Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 62 (2020), Iss. 0: S. 60–61

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Bibliografische Daten

Abstract

Als Interpret Montaignes, Montesquieus, Diderots und vor allem Rousseaus, als Ideen- und Kulturhistoriker des Zeitalters der Lumières und der FranzösischenRevolution, als Archäologie des medizinischen, philosophischen und poetischen Diskurses der Melancholie, als Literaturtheoretiker und Literarhistoriker desmenschlichen Blicks, des Schleiers, der Maske und anderer Embleme der Imagination und des Imaginären, als Editor und Kommentator der Anagramm-StudienFerdinand de Saussures und überragend kundiger Vermittler zwischen Literaturwissenschaft und Psychoanalyse hat der Schweizer Jean Starobinski (1920–2019)Weltruhm erlangt.1 Auch in Deutschland sind seine Schriften seit langem kanonisiert, akademisch in mancherlei Kontexten zitierpflichtig und dank vorzüglicherÜbersetzungen auch Leserinnen und Lesern zugänglich, denen die Lektüre der französischen Originalausgaben unmöglich oder beschwerlich wäre.2Für die Begriffsgeschichte und ihre Belange freilich bleibt Starobinskis Werk hierzulande noch immer zu entdecken. Selbst in der mit Abstand ausführlichstenInformationsquelle, dem von Ernst Müller und Falko Schmieder erarbeiteten und mit einem Umfang von über 1000 Druckseiten ersichtlich um Vollständigkeit bemühten Kompendium Begriffsgeschichte und historische Semantik3, taucht der Name des Genfer Gelehrten nicht auf: eine Fehlanzeige, die umso erstaunlicherist, als Starobinski seinerseits über sehr genaue Kenntnisse der deutschsprachigen Szene und der von Deutschland ausgegangenen Entwicklungen im Bereich derhistorischen Semantik und Begriffsgeschichtsschreibung verfügte. Dass er in den Sinn und die Subtilitäten des Studiums der Bedeutung und des Bedeutungswandels von Wörtern und Wendungen durch keinen Geringeren als Leo Spitzer eingeführt wurde, auf dessen Einladung er von 1953 bis 1956 am romanistischen Department der Johns Hopkins University lehrte, ist das eine. Das andere ist Starobinskis in punktgenauen Bezugnahmen greifbare Vertrautheit mit den begriffsgeschichtlichen Arbeiten Hans-Georg Gadamers, Joachim Ritters, Odo Marquards und Reinhart Kosellecks. Ausgiebige Benutzung des HistorischenWörterbuchs der Philosophie und der Geschichtlichen Grundbegriffe war ihm selbstverständlich. Dennoch ist es eine völlig eigene und durchaus besondere Zugriffsweise, die Starobinskis historisch-semantische und spezifisch begriffsgeschichtliche Studien – genannt seien hier nur die schon vom Titel her einschlägigen Remarques sur l’histoire du concept d’imagination4, der große Essay über das Wort Zivilisation5 und die monumentale, eine Vielzahl von Diskursdomänen und Begriffsfunktionen durchmessende Monographie Action et réaction6 – auszeichnet. Als Theoretiker der Begriffshistorie hat Starobinski sich freilich nicht eigens betätigt, Überlegungen zur Methode vielmehr stets am thematischen Objekt, im Zuge der konkreten Arbeit an Texten oder – dies ein besonders markanter und, wie uns scheint, belangvoller Zug – historischen Bildquellen entwickelt. Umso wünschenswerter ist es, Aufschluss über die Maximen zu erlangen, nach denen Jean Starobinski das Leben von Begriffen und Bedeutungen rekonstruiert und rekonstruktionsgemäß auch erzählt hat. Wir haben einen Philosophen und einen Literaturwissenschaftler, den Begriffsgeschichtstheoretiker Dieter Teichert (Konstanz/Luzern) und den Aufklärungsforscher Daniel Fulda (Halle) gebeten, sich unter den genannten Aspekten mit Starobinskis Werk zu beschäftigen. Die nachstehenden Essays dokumentieren den Ertrag.

Inhaltsverzeichnis

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SCHWERPUNKT: Jean Starobinski 59