ZEITSCHRIFTENARTIKEL
Hilft in der Krise nur noch beten?
Zur philosophischen Flucht in paulinischen Messianismus
Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Bd. 16 (2019), Iss. 16: S. 87–182
Zusätzliche Informationen
Bibliografische Daten
Böttcher, Herbert
Abstract
Mitten in den Krisenprozessen kapitalistischer Vergesellschaftung hat Religiöses mit diversen Glücks-, Entlastungs- und Zufluchtsangeboten Konjunktur. In die fiebrige Suche nach Heilsangeboten mischt sich eine Hinwendung zum Heiligen Paulus, der im philosophischen Denken einen neuen Platz bekommen hat – so auch bei den Philosophen Alain Badiou und Giorgio Agamben. Diesem in Philosophie gegossenen Messianismus widmet sich Herbert Böttcher mit seinem Beitrag »Hilft in der Krise nur noch beten? – Zur philosophischen Flucht in paulinischen Messianismus«.Badious Interesse konzentriert sich auf Paulus als Revolutionär. Durch das Ereignis seiner Bekehrung zum Christusereignis wird er zum Kritiker des jüdischen Gesetzes und des griechischen Denkens und so zum Begründer einer neuen universalen Wahrheit. Sie wird zur Grundlage für die Konstitution eines militanten Subjekts. Aus der Ohnmacht, die das Subjekt im Kapitalismus erleidet, wird es gleichsam aus dem Nichts wieder handlungsfähig, wenn es einem inhaltlich leeren Ereignis und seiner Wahrheit aufgrund einer existentiellen Entscheidung die Treue hält. Giorgio Agamben will den Bann eines Ausnahmezustands, der zum Normalzustand wird, brechen. Mit Paulus Hilfe konstruiert er einen den Bann lösenden messianischen Rest und eine rettende ›Zeit, die bleibt‹. Sie werden zur Grundlage eines messianischen Lebens im Modus des ›Als ob nicht‹, im Klartext: eines Lebens im Kapitalismus, als ob es ihn nicht gebe. Während Badiou eine Identität von Wahrheit und Subjekt zu fundieren sucht, will Agamben auf eine Nicht-Identität hinaus, die sich jeder inhaltlichen Bestimmung entzieht.Böttcher zeigt, dass beide Autoren der Verzicht auf eine Analyse des Kapitalismus als ›konkrete Totalität‹ verbindet, ebenso wie der unmittelbare Rückgriff auf vormoderne Traditionen, der jede historische Kontextualisierung und damit die Frage nach Herrschaftsverhältnissen ausblendet. Dies führt neben theologischen Fehlurteilen zu einer umstandslosen Instrumentalisierung des Paulus für das eigene Denken. Die philosophische Hinwendung zu einer religiösen Gestalt geht einher mit einer postmodernen Religionsfreudigkeit, die dezisionistisch autoritäre und reflexionsfeindliche Züge trägt. Sie ist einem existentialistischen philosophischen und theologischen Denken verwandt, das Gewissheit über existentielle Erfahrungen und das Wagnis der Entscheidung sucht. Es erweist sich als ebenso reflexionsfeindlich und fundamentalistisch wie die spirituellen Produkte, die auf den Esoterik-Märkten und auch in den Kirchen angeboten werden.