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Kritik des politischen Engagements

Scheit, Gerhard

2016

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Bibliografische Daten

Abstract

Alle Ideologie beruht auf Verdrängung der Gewalt; noch dort, wo sie Gewalt fetischisiert, bildet der blinde Fleck des Souveräns den Ursprung. Denn ausgeblendet wird ja nicht Gewalt als solche, sondern dass durch sie die Einheit der Gesellschaft erst Bestand hat. An diesem blinden Fleck tritt im Politischen selbst zutage, wie Aufklärung sich weigert, ihre eigenen Bedingungen zu begreifen – darin ist sie zunächst nichts anderes als die frühe Gestalt des Engagements. In dieser ‚Dialektik des Leviathan‘, wie sie der erste Teil des Buchs im Anschluss an die Dialektik der Aufklärung zu umreißen versucht, erhält die Gegenüberstellung von Hobbes und Spinoza eine Schlüsselrolle. Die These lautet, dass ein kritischer Begriff des Staats ohne die Kritik der spinozistischen Auffassung von Substanz nicht zu haben sei, deren problematische Aspekte nicht zufällig in der französischen (und italienischen) Linken (Althusser, Deleuze, Negri…) wiederkehrten. Umgekehrt war es gerade die Problematik dieses Substanzbegriffs, die es Marx erst ermöglichte – zusammen mit der Hegelschen Dialektik und zugleich gegen sie gerichtet – die Kritik der politischen Ökonomie zu entfalten. Wenn die neueste Ideologie der Linken wie der Rechten, in Frankreich wie in Deutschland, vielfach das Heideggersche „Sein“ und den Carl Schmitt’schen „Begriff des Politischen“ an die Stelle von Substanz und Souveränität setzt (Agamben, Badiou, Mouffe…), ist es mit jener ‚Dialektik des Politischen‘ auf dem Boden der klassischen Metaphysik und Aufklärung nicht mehr getan. Dem heutigen Triumph Heideggers und Schmitts zu widersprechen, geht es im zweiten Teil des Buchs: Jean-Paul Sartres „Engagement gegen den Tod“ und Jean Amérys Appell, den Leib zu „substantiieren“ (wie das Manfred Dahlmann jüngst ausgedrückt hat), bedeuten einerseits Annäherung an die entscheidenden Fragen einer Philosophie nach Auschwitz – gerade auch, was die Frage des Souveräns betrifft. Andererseits verkehrte sich bei beiden regelmäßig die kritische Intention, sobald man den Gegenstand des Engagements mit der politischen Linken teilen und also Politik machen wollte. Dass sie vielmehr zu sabotieren sei, hat allerdings Améry – ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein – in seiner Parteinahme für Israel vorgeführt wie kaum ein anderer. Der von Adorno formulierte kategorische Imperativ, der zugleich das Politische als „Stand der Unfreiheit“ begreift, erweist sich als die einzige Möglichkeit, dieser Sabotage auf den Grund zu gehen. Hier spannt sich aber auch der Bogen zum ersten Teil des Buchs zurück: Aus der Kritik an Spinozas Substanzbegriff lässt sich keine Kritik an Heideggers Sein zum Tode entwickeln, so wie auch der Gegensatz zwischen der Vernunft als Selbsterhaltung, die in der Dialektik der Aufklärung kritisiert wird, und der Vernichtung um der Vernichtung willen, die das Selbstopfer einschließt, dialektischer Vermittlung nicht mehr zugänglich ist, sondern zur Intervention nötigt. Davon legt jener Imperativ Zeugnis ab. Nur wer sich dabei jedoch die eigene Ohnmacht immer wieder eingesteht, die im notwendigen Engagement gegen den Antisemitismus so fatal wie nirgendwo hervortritt – spätestens dann, wenn der eben erst bezwungene Antisemit in neuer Gestalt wiederaufersteht –, wird auch die antisemitische bzw. antizionistische Gewalt nicht unterschätzen. (Diese Unterschätzung ist das Merkmal aller liberalen Anstrengungen, die Antisemiten zurückzudrängen.) Der dritte Teil schließlich versammelt – in Anlehnung an Adornos Engagement-Essay – Einzelstudien zur Kritik des politischen Engagements, wie sie sich an und in den Werken von Literatur und Essay, Musik und Film erschließt (Thomas Bernhard, Berthold Brecht, Hanns Eisler, Jean-Luc Godard, Elfriede Jelinek, Imre Kertész, Claude Lanzmann, Georg Lukács…).

Inhaltsverzeichnis

Zwischenüberschrift Seite Aktion Preis
Cover U1
Inhaltsverzeichnis 5
Einleitung: Nach Auschwitz 9
I. Teil: Die Substanz, das Gesetz und der Souverän 13
1. Abschied vom Leviathan 13
Das Gravitationsgesetz des Staats 25
Ultimi barbarorum als Nachtwache des Souveräns 37
2. Transzendenz der Todesdrohung, Immanenz der Seelenruhe 48
Spinozas Ethik und Kants Moral 50
Kabbala ohne Judentum 59
Leib und Seele 85
3. Wiederkehr des Verdrängten 103
Rule of Law oder Prärogative 117
Staat oder Gott 130
Staatskritik oder Platonismus 157
4. Leib und Kapital 170
Das Kapital und die abstrakte Arbeit 182
Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw. 193
Über die Wertform des Individuums 214
5. Der neue Behemoth und die falschen Freunde Spinozas 216
Antihumanismus 218
Anti-Ödipus und Anti-Hobbes 232
Anarchie und Antizionismus 249
II. Teil: Das Sein zum Tode, der Imperativ und das Engagement 257
1. Herr und Knecht 257
Der Herr 264
Der Knecht 275
Phänomenologie des Unstaats 280
2. Engagement für und gegen den Tod 302
Der Seinsphilosoph vor der Résistance 302
Le faux, c’est la mort 315
Behemoth und die Aufhebung des kategorischen Imperativs 331
Exkurs über den verborgenen Freiheitsbegriff der Kritischen Theorie 343
3. Der praktische Imperativ im Zeitalter des Antizionismus 355
Charaktermaske und automatisches Subjekt, Staatscharakter und sterblicher Gott 360
Die Krise und der Wahn 369
Engagement und Ohnmacht 374
4. Vernichtung und Gegengewalt 379
Folter und Freiheit 380
Logik der Vernichtung 389
Gegengewalt im absoluten Grauen 407
Gegengewalt als Ideologie 412
5. Der blinde Fleck der Kritischen Theorie und der Primat der Außenpolitik 426
Die Juden und die verwaltete Welt 428
Marginalien zu Theorie und Praxis der Gegengewalt 431
Die Souveränität des Judenstaats gegen den neuen Behemoth 439
Exkurs: Postmarxisten versus Verfassungsanarchisten 465
III. Teil: Das Kunstwerk, die Form und die politische Untat 491
Nach Kafka: Versuch über Imre Kertész 492
Georg Lukács und der romantische Antikapitalismus 526
Jean-Paul Sartre und die romantisierte Résistance 557
»Pogrommusik«: Der Bruch in Adornos Mahler-Deutung 571
Hanns Eisler und die letzten Tage der Menschheit 594
Engagement als mimetisches Element bei Brecht 615
Im Zeichen Ernst Jüngers: Engagement als ideologisches Element bei Alfred Andersch 632
»...ihr habt den Tod gehasst«: Claude Lanzmann und die Kritik der politischen Gewalt 680
Anstelle eines Nachworts: Nachgelieferte Prolegomena 707