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Abstract
Platons »Kratylos« ist das erste Werk in der Geschichte der westlichen Philosophie, das sich ganz der menschlichen Sprache in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit widmet. In seiner Konzentration auf die archaisch anmutende Frage, ob es eine natürliche oder bloß eine konventionelle Richtigkeit der Bezeichnungen gibt, kann der »Kratylos« leicht mit einem kuriosen Museumsstück von rein historischem Interesse verwechselt werden. Tatsächlich wird aber philosophisch reich belohnt, wer sich auf eine echte Auseinandersetzung mit Sokrates’ Untersuchung der Richtigkeit der Bezeichnungen einlässt. Denn diese Untersuchung deckt die Fragwürdigkeit unserer alltäglichen Betrachtungsweise von Sprache auf, nach der die Anerkennung naturgegebener Grenzen unserer Freiheit bei der Einführung von Bezeichnungen ausgeschlossen scheint. Die vorliegende Neuinterpretation lässt die zeitlose philosophische Signifikanz des »Kratylos« klar zutage treten. Sie erhellt, wie Platon es seinen Leserinnen und Lesern durch den virtuosen Umgang mit der literarischen Form des Dialogs ermöglicht, die Verwechslung von Bezeichnungen mit ihren Lautgestalten als Quellpunkt ihrer naheliegenden, aber irrigen Vorstellung von Bezeichnungen und ihrem Wirklichkeitsbezug zu identifizieren. Dieser Vorstellung, der zufolge es sich bei Bezeichnungen um beliebig austauschbare Stellvertreter für unproblematisch gegebene Objekte handelt, setzt Platon eine attraktive Alternativposition entgegen: Bezeichnungen sind, so sollen seine Leserinnen und Leser der Argumentation des »Kratylos« entnehmen, Werkzeuge der Artikulation einer von uns erst noch zu erschließenden Wirklichkeit und unterliegen als solche unverfügbaren natürlichen Anforderungen.